Skip to main content

Kann man die Verantwortung für eine verbreitete Impfskepsis den Homöopath:innen in die Schuhe schieben? Fast scheint es, als gebe es da Verbindungen, wenn man die Medien verfolgt. Beispielhaft sei der jüngste Beitrag des Bayrischen Rundfunks genannt: https://www.br.de/nachrichten/wissen/fake-news-expertin-nocun-gefahr-von-homoeopathie-unterschaetzt

Mein Kollege Tjado Galic hat seine Gedanken dazu hier veröffentlicht und ich teile Passagen seiner Analyse gern:

Liebe Hörer:innen von Bayern 3,
liebe Journalist:innen,
liebe Homöopathie-Interessierte und Homöopathie-Gegner:innen,

als homöopathisch arbeitender Praktiker mit der Erfahrung von 27 Jahren Vollzeitpraxis erlebe ich, wie auch Sie, diese bewegende Zeit mit ihrer zunehmenden Verdichtung von Ängsten und einem scheinbar wachsenden Bedürfnis, einen Schuldigen auszumachen für all das, was nicht so funktioniert, wie erhofft.

Bevor sich nun vollkommen fehlgeleitete Ansichten verfestigen, hier ein kurzer Beitrag zur sachlichen Information, um wohl tiefliegende Missverständnisse und Vorstellungen zu erhellen, mit einer Bitte am Schluss.

Was hat Impfung mit Homöopathie zu tun?

Impfung an sich ist ein urhomöopathisches Konzept. Warum? Homöopathie heißt Reiztherapie durch Ähnlichkeit. Dafür nehme man einen krankmachenden Stoff und schwäche ihn ab, minimiere ihn, verändere ihn auch ein wenig durch Zusätze und gebe ihn als gezielten einzelnen Impuls (kleine Einmalgabe des Wirkstoffs, ggf. in Wiederholung), um eine Reiz-Reaktion im Organismus auszulösen. Dabei sollen möglichst erkennbare Symptome auftreten, welche die Reaktion bestätigen. Ziel dieser Anwendung ist eine höhere Robustheit zu erlangen, die Abwehr zu trainieren und den Organismus als Ganzes zu stärken.

Weshalb sollten nun ausgerechnet homöopathisch denkende und arbeitende Praktiker:innen (Ärzte, Heilpraktiker, Hebammen, Pharmazeuten) sich kategorisch gegen Impfung als eine Form der Prophylaxe aussprechen?

Homöopathisch arbeitende Praktiker:innen sprechen sich für eine ganzheitliche Individualmedizin aus.

Darunter versteht man die Berücksichtigung der Konstitution, die Entwicklung der gesamten Krankengeschichte, den Status der aktuellen Gesundheitssituation einschließlich aller Lebensumstände zur Diagnose und Arzneitherapie für jeden einzelnen Patienten. Um das hinzubekommen, braucht es nicht nur die Expertise der jeweiligen Behandler:innen, sondern auch die Erkenntnisse aktueller Forschung und ganz wichtig den Patientenwillen als dritte Säule einer evidenzbasierten Medizin. All diese Aspekte sollen ausgewogen berücksichtigt werden.

Das, was ich und die meisten Kolleg:innen als homöopathische Praktiker:innen infrage stellen, ist somit nicht die Immunisierung durch Impfung an sich, sondern der eventuell propagierte, unreflektierte Umgang damit.

Der Streitpunkt ist eine unkritische Anwendung mittels „Rasenmähermethode“, bei der alle unterschiedslos das Gleiche, in der gleichen Dosis, ohne Kontrolle und Berücksichtigung individueller Besonderheiten, auftretender unerwünschter Reaktionen oder Kontraindikationen bekommen, unabhängig von ihrer Gesundheitssituation und ohne die Möglichkeit, sich frei zu entscheiden. Eine solche Vorgehensweise verletzt das Prinzip einer gewissenhaft praktizierten Individualmedizin mit ihrer individuellen Risikoabwägung. Mehr prinzipielle Vorbehalte gibt es da seitens der homöopathischen Theorie und Praxis nicht.

Dies gilt, um es deutlich zu sagen, auch für eine unkritisch oktroyierte Einheitsmedikation, wie z.B.

  • die Anwendung von Magensäureblockern, Blutdrucksenkern oder Schmerzmitteln, verordnet als Dauertherapie auf ein einzelnes lokales Symptom,
  • ebenso wie für Einheitsanwendungen von Homöopathika wie Drosera bei Röchelhusten, Arnica bei Verletzungen, Belladonna bei Fieber etc., ohne eine fundierte und umfassende Diagnostik und angemessene Differentialdiagnose.

Gute und böse Medizin?

Wer, wie ich, schon so lange in der Praxis tätig ist, hat darüber hinaus vor allem noch etwas anderes gelernt:

Begriffe wie: „immer“, „nie“, „nur so“, „nie so“, mit den kategorischen Zusätzen von FALSCH und RICHTIG oder WAHR und UNWAHR sind, mit Verlaub, vollkommen ungeeignete Kategorien im Umgang mit Krankheit und Gesundheit. Wer das nicht versteht, dem sei ein sechs Monate währendes Praktikum in der Krankenpflege oder im Hospiz empfohlen, um erste persönliche Eindrücke von wirklich Kranken zu gewinnen und um dem Leid in all seinen Ausprägungen einmal selbst zu begegnen. Es gilt, Situationen zu erleben, in denen man nicht ausweichen und sich nicht hinter – was auch immer – verstecken kann. Nicht selten wandelt sich dann voreingenommene Gewissheit aus sicher geglaubten Überzeugungen in eine authentische Bescheidenheit, mit einer der Thematik angemessenen Einsicht und gesunder Skepsis gegenüber „absoluten“ Wahrheiten.

Die Weisheit einer so mahnenden Vorsicht findet sich nämlich nicht in einer Theorie und auch nicht in Statistik oder mathematischen Modellierungen begründet und schon gar nicht in einer darauf konstruierten Meinung.

Um dies in gebührendem Respekt und in Gänze zu verstehen, braucht es eine patientennahe Erfahrung vieler selbst behandelter Fälle. Schon vor 33 Jahren als ich meine Ausbildung begann, warnten erfahrene Kliniker vor einer zunehmenden Abstraktion und Fragmentierung in der Medizin, die den Menschen außen vorlässt, mit dem Leitspruch: „Krankheiten lesen keine Lehrbücher und halten sich auch nicht so zuverlässig an die Ergebnisse selektierter Studien.“ Lernen wir das nicht gerade wieder einmal?

Was sagt die Wissenschaft?

Dies lässt sich auch auf den Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen erweitern, die stets als vorläufig und nie endgültig anzusehen sind, so Karl Popper. Erkenntnis entsteht im Spannungsfeld unterschiedlicher Forschungsansätze, die im Pluralismus des Denkens wachsen. Wissenschaftlichkeit in einer Aussage ist demnach nicht nur eine gut begründete These, sondern vor allem eine respektvoll vorsichtige Annäherung an das, was aktuell als Wahrheitswert angenommen und verstanden werden kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger, in dem Wissen, dass die Erkenntnis von heute sich schon morgen ändern kann.

Laute Gewissheiten hingegen, die sich ungefragt hervortun und sich anmaßen, Urteile zu sprechen, gehören sicher nicht dazu. Sie stammen nicht aus einer wissenschaftlich redlichen Haltung.

Was sagt die Ethik?

Der ethische Aspekt, welcher in der Praxis eine überragende Bedeutung besitzt, folgt dem Leitsatz:

Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare.
Zuerst nicht schaden, zweitens vorsichtig sein und drittens heilen.

Sie können sicher sein, liebe Leser:innen: Gerade, wenn man so sehr ohne Recht auf Gegenrede dauerhaft medial angefeindet wird, wie das mit Homöopathie-Befürworter:innen geschieht, ist dieser ethische Leitsatz die wichtigste Plattform des eigenen Praktizierens. Das leitet über zum letzten Punkt:

Ein solcher ethischer Ansatz zeigt Respekt vor dem Individuum, dem Leben und dem Leid. Diese Haltung fürchtet sich auch nicht vor dem Tod, um Sterbenden beistehen zu können, statt sie zu isolieren. Sie ist auch nicht laut vorpreschend, braucht keinen moralisierenden Zeigefinger und ist schon gar nicht kategorisch für oder gegen etwas.

Vielmehr schaut sie umsichtig und respektiert dankend jedes gute Argument des Andersdenkenden, gerade auch der Gegner, als Hilfe für den Erkenntnisgewinn, ausgerichtet auf das Wohl der anvertrauenden Patient:innen in ihren Lebenssituationen.

Die Bitte am Schluss

Liebe Hörer:innen, Leser:innen, Journalist:innen, Befürworter:innen und Gegner:innen, es geht hier im Grunde nicht um die Homöopathie, sondern um eine wichtige Dimension des Umgangs miteinander, um unsere gemeinsame Zukunft als Gesellschaft.

Nun zu meiner Bitte:

Bitte fragen Sie sich: Wann in der Geschichte der Menschheit brauchte es eine einzig wahre Wahrheit, die in einem lauten Gleichschritt daherkommt, mit Ächtung und Ausgrenzung Andersdenkender, mit Urteil und Verbot, statt Dialog? Was für eine Wahrheit verlangt(e) das? Wofür braucht es so etwas?

Tjado Galic, HP – Hannover, 06.12.2021